Grenzenreise 2: Saint-Etienne, die schwarze Stadt

14. September 2017  
Literatur, Musik  

1973 wurde die letzte Steinkohlengrube in St. Etienne geschlossen. 1974 habe ich die Stadt und ihre Region verlassen und ein neues Leben angefangen … in Berlin. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr mich die “schwarze Stadt“ geprägt hat, von der die beiden Lieder Bernard Lavilliers‘ handeln, die ich für das middenmang-Magazin übersetzt habe.

Lavilliers, der selber Sohn eines Angestellten der Manufactures nationale d’Armes de Saint-Etienne war, erzählt darin von der „schwarzen“ Zeit der Stadt und ihres industriellen Untergangs. Originalaufnahmen dieser Lieder sind auf youtube verfügbar.

Im Anschluss an die Übersetzung berichte ich noch etwas mehr über die Geschichte dieser Region.

 

Bernard Lavilliers

Saint-Etienne

On n’est pas d’un pays, mais on est d’une ville
Où la rue artérielle limite le décor
Les cheminée d’usine hululent à la mort
La lampe du gardien rigole de mon style

La misère écrasant son mégot sur mon Coeur
A laissé dans mon sang sa trace indélébile
Qui a le même son et la même Couleur
Que la suie des crassiers, du charbon inutile

Les forges de mes tempes ont pilonné les mots
J’ai limé de mes mains le creux des évidences
Les mots calaminés crachent des hauts fourneaux

Mes yeux d’aciers trempés inventent le silence

Je me saoule à New York et me bats à Paris
Je balance a Rio et ris à Montréal
Mais c’est quand même ici que poussa tout Petit
Cette fleur de grisou à tige de métal

On n’est pas d’un pays mais on est d’une ville
Où la rue artérielle limite le décor
Les cheminée d’usine hululent à la mort
La lampe du gardien rigole de mon style

 

Bernard Lavilliers

Saint-Etienne

Man kommt nicht aus einem Land her, sondern aus einer Stadt
Wo die Arterie der Hauptstraße das Bühnenbild durchzieht
Die Fabrikschornsteine heulen zu Tode
Die Lampe der Nachtwächter lacht über meinen Stil

Der Elend hat seine Kippe auf meinem Herzen zerdrückt
Und in meinem Blut seine unlöschbare Spur hinterlassen
Die den gleichen Klang und die gleiche Farbe hat

Wie der Ruß der Halden und der nutzlos gewordenen Kohle
Die Eisenhammer meiner Schläfen haben die Wörter zerstoßen
Ich habe mit meinen Händen das Offenkundige ausgefeilt
Die verrußten Wörter spucken aus den Hochöfen

Meine Augen durch den Stahl gehärtet erfinden die Stille

Ich besaufe mich in New York und prügle mich in Paris
Wanke durch Rio und lache in Montreal
Aber in dieser Stadt wuchs in mir klein
diese Blume aus dem Grubengas mit Stiel aus Metall

Man kommt nicht aus einem Land her, sondern aus einer Stadt
Wo die Arterie der Hauptstraße das Bühnenbild durchzieht
Die Fabrikschornsteine heulen zu Tode
Die Lampe des Nachwächters lacht über meinen Stil

Ein weiteres Lied von Bernard Lavilliers über St. Etienne stelle ich demnächst hier vor.

Saint-Etienne hat eine lange industrielle Vergangenheit. Ab den 14. Jahrhundert wurde es zu einem Zentrum der Metallverarbeitung, das insbesondere durch seine Waffenfabrikation bekannt wurde. Aber auch das Posamentiergewerbe und die Werkzeugherstellung wurden hier ausgeübt. Dies bot die Voraussetzung für den raschen Aufschwung im Rahmen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. 1823 bis 1827 wurde die erste Bahnverbindung Frankreichs gebaut. Mit dieser Bahn wurde die bei Saint-Etienne abgebaute Steinkohle transportiert. Saint-Etienne war für die Kriege 1870/1871, für den ersten und zweiten Weltkrieg eine der bedeutendsten Waffenschmieden Frankreichs. Die Stadt war Mittelpunkt der Kohlenförderung im Loire-Kohlebecken und Sitz einer Bergakademie, der Grande École des Mines, einer Kaderschmiede für generalistisch ausgebildete Ingenieure. Wichtige Industriezweige waren die Montanindustrie (das französische Dortmund), die Elektro-, Textil- und Waffenindustrie. Bis Mitte 1980 war Saint-Etienne auch der wichtigste Standort der französischen Fahrradproduktion.

Die Krise der Montanindustrie in den 1970er Jahre traf die Region schwer. 1973 wurde die letzte Baugrube geschlossen. Aber Saint-Etienne, die schwarze Stadt, und seine Umgebung haben meine Kindheit und Jugend geprägt.

„Die schwarze Stadt“ – diese Bezeichnung gehört der Vergangenheit an. Saint-Etienne ist Stadt des Designs geworden. Mit der Sanierung aber von verschiedenen Teilen der Stadt, mit der Verwandlung der alten Fabrikgebäude der Waffenfabrik Manufrance in „City of Design“, ist die industrielle Vergangenheit nicht verschwunden, sondern kommt noch mehr zum Vorschein. Saint-Etienne wurde von der UNESCO als „City of Design“ ausgezeichnet und ist, als einzige französische Stadt, Mitglied im Creative Cities Network. Mit einer festverwurzelten Design-Branche, einem Programm an Dauerausstellungen und einer dem Design gewidmeten Großveranstaltung, einer von Design und moderner Architektur geprägten kulturellen und städtebaulichen Landschaft sowie mit einer weiterführenden Schule für Design. Diese Entwicklung wird noch durch die Nähe zu Lyon gefördert.

Fanchon