Auf Annie Ernaux bin ich aufmerksam geworden durch die Lektüre von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, weil sie beide das soziologische Milieu beschreiben, in dem ich aufgewachsen bin, allerdings, als Tochter von zwei Grundschullehrern, doch privilegiert. Sie zeigen kritisch die Rolle zentraler Institutionen wie das Bildungssystem als Instrument der sozialen Ausgrenzung auf und sprechen sich für eine Demokratisierung aus. So sind sie in der Tradition von Jean-Paul Sartre und von Autorinnen wie Simone de Beauvoir, Assia Djebar (Algerierin).
Am 29. Oktober 1945 erklärt Jean-Paul Sartre in einem Vortrag im Theater:
„Das menschliche Leben hat a priori keinen Sinn. Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen, ihm einen Sinn zu geben, und der Wert des Lebens ist nichts anderes als dieser Sinn, den Sie wählen“. Damit hatte er den Zeitgeist auf den Punkt getroffen. Er gründete eine Zeitschrift, schrieb Chansons, Gruppenmanifeste, Romane, Drehbücher, Zeitungsartikel, Essays, Literaturkritiken und philosophische Grundsatzwerke, während Simone de Beauvoir sein Leben in Romanen, Autobiographien und Tagebüchern schrieb. In diesen Jahren entstand eine Form von Gegenwartsliteratur als poetischer, philosophischer und gesellschaftlicher Gesamtentwurf.
Seit dem Tod von Sartre 1980 gibt es keine nennenswerten literarischen Zentren mehr. Auf der Buchmesse galt ab dann der Auftritt deswegen nicht der Literatur der französischen Nation, sondern der französischen Sprache, die auch in der Schweiz, in der Karibik, in Afrika und im Maghreb gesprochen wird.
Für Sartre und Simone de Beauvoir war Paris mehr als eine Stadt. Es war eine Lebensform. Die jüngeren französischen Autoren dagegen leben nur noch selten In Paris. Sie haben nicht auf der École Normale Supérieure studiert, sie gehören keiner literarischen Schule an, frequentieren nicht mehr alle dieselben einschlägigen Cafés und Nachtbars. Einige haben lange im Ausland gelebt. Andere wie Marie NDiaye und Cécile Wajsbrot wohnen vorwiegend in Berlin, andere fühlen sich in Barcelona wohler und die maghrebinische Autoren wie Boualem Sansal und Kamel Daoud ziehen es vor, in ihrer algerischen Heimat französische Romane zu verfassen. Das literarische Territorium ist weitläufig und unübersichtlich.
Erst in den 90er Jahren mit Houellebecq tauchte ein Autor, der Sartre vergleichbar war, Schriftsteller und Philosoph, und der wie Sartre zeitdiagnostische Gesellschaftsromane schrieb. Das Auftauchen von Houellebecq war ein Schock für die seit Ende der 80er Jahre etablierte literarische Gesellschaft, meinte Emmanuel Carrère, vergleichbar mit dem Aufstiegs des Provokateurs Louis-Ferdinand Céline in den dreißiger Jahren. Die Literatur war bis dahin in einer Art Dauerironisierung des eigenen Lebens verfallen. Mit Houellebecq bringt eine alte existenzialistische Kategorie des Existentialismus wieder zum Vorschein: Die Aufrichtigkeit.
Im Windschatten von Houellebecq hat sich eine neue Prosa des autobiographischen Bekenntnisses entwickelt und knüpft an die autobiographische Nachkriegsliteratur wie zum Beispiel Mannesalter von Michel Leiris, an die Wörter von Sartre, den „Liebhaber“ von Marguerite Duras und den posthum erschienen, Fragment gebliebenen autobiographischen Roman Der erste Mensch von Albert Camus.
Neben Emmanuel Carrère und der ursprünglich durch erotische Skandalromane bekannt gewordenen Schriftstellerin Virginie Despentes, ist es vor allem Annie Ernaux, die seit den siebziger Jahren autobiographische Romane über ihre Herkunft aus einem Arbeiterhaushalt, in einer normannischen Kleinstadt schreibt. Annie Ernaux hat mit den drei Titeln „Das bessere Leben“, „Das Leben einer Frau“ und „Die Jahre“ eine Trilogie über Vater, Mutter und sich selbst geschrieben. 1940 in der Normandie geboren, verbrachte Annie Ernaux ihre Jugend in Yvetot. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Fabrikarbeiter, schließlich kleiner Laden- und Cafébesitzer. Als er stirbt, hat sie eben ihr Staatsexamen bestanden, um Studienrätin zu werden. Ihre.
Im Grunde enthalten die Bücher von Annie Ernaux alles, was man auch in Didier Eribons autobiographischen Essay Rückkehr nach Reims finden kann. Die soziologische Sichtweise spielt in ihrem Werk eine bedeutende Rolle. Sie ist stark beeinflusst durch die Alltagsforschungen von Pierre Bourdieu. „Die Jahre“ ist keine Autobiographie der üblichen Art. Passagen persönlicher Gedanken und Erfahrungen wechseln ab mit Aufzählungen und Beschreibungen des typischen französischen Lebens zwischen 1945 und 2007. Geleitet wird man von privaten Fotos, die Annie Ernaux im Lauf der Jahre zeigen. Dabei wird aber immer wieder an den gesellschaftlichen Zusammenhang erinnert und dass wir in einer bestimmten Epoche leben. Deswegen wird die Ich-Form nicht benutzt.