Ein Artikel aus der Nachbarschaft von Kerstin Kieselle
„Ommmm…. Wir beginnen im Schneidersitz. Beim nächsten Ausatmen schließt du deine Augen.“
So beginnt seit ein paar Wochen jeder Morgen. YouTube Yoga mit Adriene aus Texas. Die Sonne blitzt über die Hausdächer und taucht das Schlafzimmer in ein warmes Licht. Ich habe die Yogamatte genau in dem Lichtkegel ausgerollt, der durchs Fenster scheint.Fünf Jahre wohnen wir schon hier, doch nie ist mir bewusst geworden, wie schön der Blick in den Gemeinschaftsgarten ist. Und wie gemütlich man auf der Fensterbank lesen kann, wenn man sich dort ein dickes Kissen in den Rücken stopft. Das sind die „schönen“ Seiten der Krise.
Normalerweise verbringe ich nicht so viel Zeit zu Hause: Ich bin selbstständige Social Media Managerin und Reisebloggerin. Momentan beschränkt sich mein Radius jedoch auf das Arbeitszimmer und Balkon oder eine Runde im Park. Gemeinsam mit meinem Mann Nico reise ich durch Europa und arbeite hier mit Tourismusregionen zusammen, die für ihre Region werben möchten. Viele stellen sich das wie einen bezahlten Urlaub vor. Doch die Realität sieht anders aus: Aufstehen um 5 Uhr, um das Morgenlicht für Fotos zu nutzen. Statt Mittagspause Müsliriegel auf dem Autositz und um 23 Uhr totmüde ins Bett fallen, nachdem man die Fotos vom Tag hochgeladen hat. Trotzdem liebe ich es, unterwegs zu sein.
Zwei kleine und zwei große Aufträge von Tourismusregionen wurden bereits „nach hinten geschoben“, worauf ich mich aber nicht verlassen möchte. Ich habe keine Ahnung wie sich meine Auftragslage in den nächsten Monaten entwickeln wird. Die Tourismusbranche ist am Boden. Ganz anders sieht es bei meinem Mann aus:
Er arbeitet in einem „systemrelevanten“ Job. Und tagein tagaus erlebe ich, was das eigentlich bedeutet. Nico ist Sozialpädagoge und ist verantwortlich für Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Insgesamt 200 Klient*innen wohnen verteilt auf 13 unterschiedliche Betreuungsangebote. Hier gilt es alles zu tun, das Virus von den Menschen fern zu halten. Wie viel Arbeitet und Verantwortung das bedeutet, spüre ich an einem Tag, an dem er ausnahmsweise im Home-Office arbeitet. Das Telefon klingelt permanent, alle paar Minuten trudeln Mails ein. Jeder noch so kleine Verdacht auf das Virus löst eine riesige Kettenreaktion und große Ängste aus. Jeder Tag ist eine Achterbahnfahrt.
Wir beide freuen uns, wenn wir endlich wieder reisen können. Das muss nicht weit sein, einfach nur ein paar Tage raus. Auch wenn der Blick in den Garten schön ist. Wir hätten auch nichts gegen einen Tag am Meer. Aber erstmal heißt es #stayhome!
Wir (36) und (40) Jahre alt leben seit 7 Jahren gemeinsam in Hamburg.
Nico arbeitet als Bereichsleiter Wohnen in der Behindertenhilfe und ich bin freiberufliche Social Media Managerin.
Foto: Friederike Bräuer